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Aufstand des Marktes

Franz Rieder • Strukturwandel der Marktwirtschaft? Feudale Reminiszenzen, Kunstmarkt: Erneuerung ausgeschlossen       (nicht lektorierter Rohentwurf)   (Last Update: 01.06.2019)

Der Kunstmarkt ist also im eigentlichen Sinne und Selbstverständnis der Marktwirtschaft kein Markt. Und trotzdem funktioniert er wie ein Markt, wie ein Quasi-Markt. Natürlich muss an dieser Stelle die Frage gestellt werden, ob die Unterschiede zwischen dem Kunstmarkt und den ’normalen‘ Märkten auf etwas hindeuten, was vielleicht einen Strukturwandel innerhalb der Marktwirtschaft bedeuten kann, oder ob diese Unterschiede gewissermaßen die ganze Bandbreite der Marktwirtschaft ausmessen?

Die Marktwirtschaft hat eine große Flexibilität, ihre Stärke ist also ihre Anpassungsfähigkeit an unterschiedlichste Bedingungen und Situationen, politische, geografische ebenso wie sozio-kulturelle. Anpassungsfähigkeit ist vom Kunstmarkt nicht zu erwarten. Nun ist aber die Marktwirtschaft eben so wenig eine feste Größe – zum Leidwesen der Ökonomik und anderer Ideologien – ständig im Wandel. Wandelbarkeit und Geschichtlichkeit gehören zur Marktwirtschaft wie deren Eigenschaft, sich auszudehnen, sich in andere kulturelle Zusammenhänge, andere sozio-ökonomische Bedingungen einzumischen; dies hat die Marktwirtschaft mit dem Kunstmarkt gemeinsam.

Würde man die Marktwirtschaft, wie dies üblicherweise getan wird, als eine Ansammlung oder Versammlung von Marktmechanismen, Marktgesetzmäßigkeiten und Marktstrukturen substanzialisieren, würde man ihre Dynamik schlicht übersehen, die prinzipiell allein dadurch schon gegeben ist, dass Marktwirtschaft ja nichts anderes ist, als eine Form menschlicher Praxis.
Und zu glauben, diese Dynamik wäre verankert in einem menschlichen Bestreben, dem homo oeconomicus, indem auf der einen Seite, der Seite der Käufer, das Bedürfnis nach immer mehr Nutzen zu immer geringeren Preisen besteht, und auf der anderen Seite den Menschen bzw. das Unternehmen sieht, dessen Ziel es ist, eben dieses Marktbedürfnis so gut, effizient und schnell zu befriedigen wie möglich, was man mit Gewinnstreben bzw. Gewinnsucht als einen, sich längst verselbstständigten Prozess beschreibt, dann hätte man nicht die leiseste Idee, warum sich dieses in sich konsistente und fast schon in einem harmonischen Gleichgewicht sich befindende Marktmodell überhaupt noch entwickeln sollte?

Aber es entwickelt sich. Seine Expansivität erkennt man am Handel, der sich zu einer globalen Praxis entwickelt hat. An den Finanzmärkten, an der Entwicklung der Daten- und Kommunikationstechnologien, angefangen etwa beim Telegrafen bis hin zum Internet u.a.m. Die Marktwirtschaft also ist missverstanden, sieht man in ihr nur ein selbstreferenzielles System in einem konsistenten ‚Raum‘, einem Raum, den wir als ein Ordnungssystem beschreiben und verstehen können.

Natürlich ist Marktwirtschaft dies alles. Und Marktwirtschaft ist auch eine Form des Zusammengehens, der Kooperation und von Allianzen zwischen Politik und Ökonomie. Aber wie mit der Marktwirtschaft, so ist es auch mit der Politik. Sie ist, auch wenn vieles empirisch darauf hindeutet, eben kein sich selbst erhaltendes, autopoietisches System, also ständige Machtabstimmung zwischen Politik und Ökonomie. Die letzen Jahre haben gezeigt, dass Politik dies nicht ist, dass Politik, manchmal auch um der Aufgabe der letzten Vernunft zu sich selbst inkonform ist.

Inmitten der Politik, die um Konformität tagtäglich ringt, ist Politik auch der Versuch, Inkonformität durchzusetzen. Wir sprechen bewusst in diesem Zusammenhang nicht von alternativen politischen Ansätzen, von einer geplanten, gezielten politischen Aktivität, also von Non-Konformität. Die kann man tatsächlich weder in Europa noch in den USA zur Zeit erkennen. Wir sprechen lediglich über grundsätzliche Phänomene der Negativität, wie etwa über Disruption im ökonomischen, oder über Inkonformität im politischen Bereich. Über Dissemination, wenn es um Strukturen geht, über Inkonsistenz, wenn es über die Zusammensetzung, Art, Beschaffenheit von Systemen geht. Hier erkennen wir deren relative Stabilität in deren Verformbarkeit und Veränderbarkeit. In der Disruption die grundsätzliche Störanfälligkeit jeder ökonomischen Praxis, sei sie mikro- oder makroökonomisch bedingt.

Dissemination ist ein immanentes Strukturelement, quasi eine „Contradictio in adiecto“ in der ursprünglichen Bedeutung, die der Mathematiker Kurt Gödel in seinem Werk: „Über formal unentscheidbare Sätze der Principia mathematica und verwandter Systeme“ vorgestellt hat. Demnach ist es unmöglich, ein „vollständiges System“ zu konstruieren und dieser Versuch, dieses gedankliche Phantasma hat Gödel eine „Contradictio in adiecto“ genannt und ging als ‚Gödelscher Unvollständigkeitssatz‘ in die Mathematik ein. Unabhängig von jeder Art Fortschritt, sei dieser technischer oder wissenschaftlicher Art, wird der homo oeconomicus niemals sein Ziel erreichen, alles wissen und beherrschen zu können, so dass ein vollständiger Markt am Ende herauskommt.

Diese Zielvorstellung baut auf Projektionen, über die man, so man sie hat oder formuliert nie entscheiden kann, ob sie eintreten werden oder nicht, oder, anders gesagt mit den Wort der Logik, wird es immer formale Sätze geben, von denen wir – apriori – nicht wissen, ob sie wahr oder falsch sind1 .

Wenn nun der Kunstmarkt auf einen möglichen Strukturwandel innerhalb der Marktwirtschaft hinweist, wie müssten dann die markanten und ja offensichtlichen Unterschiede zu anderen Märkten grundsätzlich erst einmal bestimmt werden?
In der klassischen Ökonomie hat das Wirtschaftssubjekt ein ganz zentrales Interesse, nämlich Verschwendung zu vermeiden, Einsparungen zu ermöglichen. Auf dem Kunstmarkt sahen wir das Gegenteil dessen am Werke.
Schaut man hinüber zum sozialen Aspekt des homo oeconomicus, dann käme der Erwerb von Kunst einem Bekenntnis zu einem Werk oder einer Kunstrichtung bzw. einem Stil gleich. Vielleicht motiviert auch durch ein Bedürfnis der Förderung bzw. Unterstützung von Kunst bzw. von lebenden Künstlern oder durch ein subjektives Bedürfnis sichtbar unterscheidbarer Individualität, sich aus einer ‚Masse‘ herauszuheben, mit dem Besitz bzw. dem Eigentum an Kunst ein Statussymbol zu assoziieren, das einen souveränen Geschmack, eine überlegene Bildung sowie eine überlegene soziale Stellung an der Schwelle zur Autonomie demonstriert.

Warum bleiben viele Sammler und Sammlungen dann anonym und vor der Öffentlichkeit verborgen? Warum treten Agenten als Telefonanbieter anstelle von Käufern auf? Teure Uhren, Luxusautos, Yachten, Villen werden nicht durch Telefonagenten gekauft. Vielleicht; wahrscheinlich liegt die Motivation des Kunstinvestors genau am anderen Ende der Persönlichkeitsskala. Mag sein, dass es einen „ehrbaren“ Kunstmarkt gibt, aber wenn man den Kunstmarkt als Ganzes betrachtet, sind ehrbare Motive in der Minderheit. Und was treibt all die zwielichtigen Marktteilnehmer? Die mit den Schwarzgeldern, die Steuer- und anderen Kriminellen, die, die die Kunst benutzen, um große Summen Geld zu parken, weil keine seriöse Bank für eine, die grundlegende Dienstleistung, nämlich die Aufbewahrung von Geld für sie mehr bereitsteht? Und zudem noch mögliche Spekulationsgewinnen einstreichen, was aber meist nicht zur ersten Motivation zählt.

Ein Persönlichkeitszug des homo oeconomicus auf dem Kunstmarkt könnte sein, dass er, wie dem Wesen des modernen Krimininellen entsprechend, die Aufgabe von Subjektivität zu seiner Subjektivität gemacht hat. Wenn die Bejahung von Subjektivität im ökonomischen Sinne der Nutzen sei, dann aber nur im Paket mit dem Risiko, was gerne von der Ökonomik unterschätzt wird. In der Marktwirtschaft bekommst du nichts, ohne Risiko. Kein Nutzen, ohne die Gefährdung. Kein Erfolg, ohne Zweifel.
Denn ökonomisch klug ist in der Marktwirtschaft nicht effizienzversessen zu investieren; gegen die flurläufige Meinung der Wirtschaftsinstitute in Europa und den USA. Effizienzversessene Investment wären Investments, bei denen man mit seinen Ausgaben geizt; das Gegenteil verspricht Erfolg.

Deshalb fordert eine ökonomische Intelligenz auch heraus Risiken einzugehen, von deren Erfolg niemand sicher ausgehen kann. Jedes Investment kann sich auch als eine Geldverschwendung herausstellen. Jedes investive Engagement ist eine Wette, ein Spiel, dessen Erfolg sogar, wenn dieser eintritt, zweifelhaft bleiben muss, weil er öffentlich und also im Wettbewerb stattfindet.

Damit verglichen ist der Kunstmarkt also eine contradictio in adjecto, die, wie Nietzsche im „Deutsche(r)n Geist als eine fast schon schmerzhafte Assoziation zwischen Geist und Militär beschreibt2 , so gehen auch Kunst und Markt einfach nicht zusammen. So ist auch der Künstler heute nach Jahrzehnten seiner „Marktgängigkeit“ nicht unaffiziert von diesem Hiatus zwischen einem Mythos und dessen gnadenlosen Gegenspieler, zwischen dem Glauben des Künstlers an eine Marktresistenz seiner Werke und der Wirklichkeit deren mittlerweile bedingungsloser Marktaffininität.

Walter Benjamin hat bereits in seinem großen und doch unvollendetem Passagenwerk3 die monomanisch an einer vermeintlichen Integrität festhaltenden Künste „auf der Schwelle“ beleuchtet. An der Schwelle zur Selbstvermarktung zögern die Künste noch ein wenig eitel, haben aber die Schwelle zur totalen Vermarktung ihrer Werke durch ihre „Agenten“ und viele auch ihrer selbst als Künstler längst überschritten. Aus, unterstellen wir mal Echtheit der emotionalen Selbsterfahrung, Trauer über die eingetretene, vollständige Marktaffinität inszenieren die Künstler-Stars in ihrer Selbstvermarktung eine fadenscheinige Marktresistenz, die nicht müde wird, zu behaupten, zumindest so zu tun, als möchten sie das Geschehene am liebsten wieder rückgängig machen.

In der Psychologie nennt man das Verleugnung eines Geschehens wie etwa den Tod oder Verlust einer geliebten Person und hier wie dort wird eine Integrität simuliert, die nie bestand.
Jene inszenierte Integrität verleugnet die faktische Korrumpierbarkeit von Kunst und gibt sich als scheinbare Signatur eines offenen Weltkontaktes mit der transzendenten Potenz der Veränderung und Erneuerung. Solcherart „Genies“ bzw. „Heroen“ bleiben also nicht selten ein Leben lang monomanisch am „Passagenmythos“, weil ihr ganzes Denken selbst eine Passage des Mythos ist.



Resistenz vs. Affinität


Wir denken nicht, dass solche Oppositionen wie Resistenz vs. Affinität im Zusammenhang mit dem Kunstmarkt weiterbringen. Sie hilft auch wenig, wenn wir sie auf das Werk oder den Künstler anwenden. Sie eröffnet als ein Gegensatz oder wie hier in diesem Fall als ein Widerspruch das Nachdenken über den Kunstmarkt. Setzen wir den Kunstmarkt in Opposition zur Marktwirtschaft, dann stellt sich die Frage, worin besteht dessen Widerspruch?

Wir haben den Widerspruch hier in zwei Richtungen bzw. Bedeutungen impliziert. Einmal als einen logischen Widerspruch, insofern die Bestimmungen der Marktwirtschaft denen des Kunstmarktes widersprechen; und davon gibt es einige, wie wir ein paar Seiten vorher zeigen konnten. Damit ist aber noch nicht gesagt, dass der Kunstmarkt eine eigene Marktform ist. Um in diese Richtung denken zu können, bedarf es viel mehr als Unterschiede in den Bestimmungen, dessen, was ist, aufzuzeigen. Denken wir zurück an den Anfang, dann erinnern wir, dass in Widersprüchen auch komplementäre Begriffe enthalten sein können; so ist das hier auch. Sie heißen Immanenz und Transzendenz.
Beide stehen in einer scheinbar oppositionellen Beziehung zu einander, der Beziehung zwischen Identität und Differenz. Dass etwas, was mit sich selbst gleich ist, zugleich auch seinen Unterschied in sich hat, also sein mit-sich-nicht-gleich-sein und so sein Gleichsein durch seine Veränderbarkeit hindurch bewahrt, ist nicht schwer zu denken und schon seit Hegels Satz von der Identität von Identität und Differenz und Heideggers etwas kürzeren Satz der Identität4 bekannt. Heidegger betont explizit die Zusammengehörigkeit von Identität und Differenz und markiert damit zweifellos eine umgreifende Identität, die nicht mehr in Opposition zur Differenz steht.
Wenn also nichts mehr wirklich einen Unterschied macht, wenn etwa Kunstwerke und Künstler in einer Art kritischer Harmlosigkeit zu dem stehen, was ihnen Anlass und Grund zur Kritik geben, nämlich die Marktwirtschaft bzw. die Warenwelt und ihr Äquivalenztausch, wo macht man dann den wahren Unterschied, den, der kritisch sich der Warenwelt und dem Äquivalenztausch widersetzt, dann noch fest?.

Die Künste, also auch die bildenden Künste waren über die Jahrhunderte gerade die prominentesten Protagonisten und standen paradigmatisch für die Veränderbarkeit der Bedingungen des menschlichen Lebens durch den Menschen. Veränderung so verlässt die Sätze der Identität, insofern es nicht um einen aus sich selbst getriebenen Prozess geht, sondern um einen Eingriff in einen Prozess, der den Prozess als solchen verändert. Kann der Kunstmarkt diesen Status eines Eingriffs heute noch behaupten? In der bildenden Kunst waren die Eingriffe in die Prozesse der Marktwirtschaft in den letzten hundert Jahren zahlreich. Und viele dieser Eingriffe waren nicht vermarktbar, waren also marktresistent. Sie lösten, wie etwa Beuys, heftige Diskurse aus, Reaktionen des Staates oder der stattlichen Ordnungshüter, zeitigen Konsequenzen für Kunst und Künstler; sie waren also wirksam.
Natürlich muss man nicht gleich die gesamte Marktwirtschaft abgeschafft sehen, um eine Veränderung auch Veränderung nennen zu dürfen. Doch bevor wir uns mit Revolutionen beschäftigen, schauen wir noch ein wenig auf einen immanenten Veränderungsprozess, den man zwar Entwicklungsprozess nennen darf, dabei sich aber der Gefahr bewusst sein muss, dass Entwicklung sowohl bestätigend, also affirmativ wie auch erneuernd, also innovativ sein können.

Bleiben wir bei dem Begriff der Veränderung. Veränderungen stehen in einem resistenten Verhältnis zur Tradition, die ihrerseits zur Veränderung remanent ist. Veränderung bezeichnet dann einen Prozess, in dem man aus etwas heraus in etwas neues, anderes, differentes eintritt. Blicken wir auf die aktuellen Theorien der Kommunikation, dann wird dort behauptet, dass die neue Welt der globalen und vernetzten Kommunikation derart weltumspannend und weltdurchdringend ist, dass jeder mit jedem über Raum und Zeit hinweg kommunizierend kann, dass diese Art der Kommunikation sich also längst auf den ganzen Planeten ausgeweitet hat, dass es keinen Ort außerhalb der Kommunikation, kein Draußen mehr gibt. Wie könne es da noch einen Prozess geben, von dem aus man in etwas anderes, einen anderen Raum eintreten könne?

Dieser virtuelle Raum der globalen Kommunikation ist geradezu ein Paralleluniversum zum Äquivalenztausch; leicht zu erkennen. Und wie die Rede vom Äquivalenztausch so ist auch die vom virtuellen Raum der Kommunikation einfach nur Unsinn. In wirtschaftssoziologischer Sicht ist ein Äquivalenztausch ein Tausch, bei dem Waren mit gleichen Werten getauscht werden; aber selbst zwei identisch aussehende Tomaten haben nicht den gleichen Wert. Deshalb war es auch nicht sonderlich schwer für die marxistische Betrachtung, den Äquivalenztausch als ein Grundmodell neuzeitlicher Wissenschaftsideologie zu entlarven, worin sich die Gerechtigkeitsvorstellungen mit den Gleichheitsvorstellungen überschneiden. Gleich ist gerecht ist die Losung der bürgerlichen Ideologie der Aufklärung, die aber weder den Sinn der Losung: Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit je verstanden, noch den Sinn für das Ganze des Äquivalenztausches entdeckt hat.

Zum Äquivalenztausch, der sich ja allein auf die Sphäre der Warenzirkulation bezieht, kommt notwendigerweise die Produktion von Waren dazu; ohne sie kein Ganzes, kein Sinn. Bereits Adam Smith hat sich seine theoretischen Zähne daran ausgebissen, den Tauschwert zu bestimmen und dabei ist ihm die Ideologie eines vermeintlich gerechten Äquivalentes zur aufgewendeten Arbeitszeit auch unter Berücksichtigung der in den Produktionskosten steckenden Aufwendungen in den Sinn gekommen. Arbeitsmenge plus Produktionskosten sollten nach ihm der Maßstab sein für einen gerechten Tauschwert der Waren und Güter und der Erlös auf dem Markt, der Preis also dann gerecht und gleich unter Arbeit und Kapital verteilt ein Äquivalenzprinzip eröffnen.

Bar der aufgeklärten Vorstellungen eines gerechten Äquivalentes für den Faktor Arbeit, war Marx auch nicht. Gleichwohl er erkannte, dass zwischen der Herstellung und dem Verkauf einer Ware ein differentes Wertvolumen, ein Mehrwert zugunsten des Kapitals entsteht, ohne zu ahnen, wo oder wodurch der „Mehrwert“ tatsächlich entsteht, wollte Marx die Aneignung des Mehrwerts, also eines Wertüberschusses in der Ware, den sich der „Kapitalist“ aneignet in einer anderen Form gesellschaftlicher Warenproduktion wieder ausgleichen.

Ist in der Marktwirtschaft nach marxistischer Lesart der Äquvialenztausch ein ungerechter Tausch zwischen ungleichen Marktteilnehmern, der die Ausbeutung des Lohnarbeiters durch den Kapitalisten und also auch die Ungleichheit der Marktteilnehmer verschleiert, bleibt doch die Vorstellung eines gerechten, weil Tauschmarkt unter Gleichen auch in seiner unbürgerlichen Projektion, dem „Kommunistisches Manifest“ enthalten.

Der Kunstmarkt kennt keinen Äquivalenztausch, weder einen gerechten noch einen ungerechten. Der Arbeitsaufwand des Künstlers ist überhaupt kein Maßstab, der zur Wertentwicklung des Kunstwerkes weder logisch noch faktisch etwas beiträgt. Die Produktionskosten sind bei den Malern schlicht zu vernachlässigen, meistens jedenfalls, und in der Bildhauerei bzw. bei den Plastiken erscheinen sie, wenn überhaupt, als eine Art Vorschuss, also als Verlustgrößen.

Verbunden mit den bereits heraus gearbeiteten Unterschieden scheint der Kunstmarkt jetzt noch mehr als eine Art Differenz zur Marktwirtschaft, als eine Art Index deren Löchrigkeit, der sich die Agenten der Kunstwirtschaft weidlich bedienen, um ein Geschäft, ohne Affinität mit den üblichen Gepflogenheiten zu pflegen.



Feudale Reminiszenzen


Ein Umsatz von jährlich knapp 62 Mrd. US-Dollar erscheint auf den ersten Blick nicht viel für den weltweiten Kunstmarkt. Damit aber, verglichen mit den jeweiligen Staatsumsätzen, steht der Kunstmarkt auf Platz 73 in der Liste der 192 Länder mit dem höchsten BIP weltweit, also da, wo Länder stehen wie Luxemburg oder Panama, aber noch vor Uruguay, Costa Rica, Bulgarien, Kroatien, Weißrussland und Tansania.
Von allen diesen Ländern wird über verschiedene internationale Institutionen wie etwa dem IWF und in internationalen Handelsverträgen weit mehr gesetzliche Treue und Einhaltung von vertraglichen Bedingungen und Richtlinien erwartet, als von den Akteuren auf den weltweit agierenden Kunstmärkten.

Wir haben bereits einige der Unterschiede zwischen Kunstmarkt und anderen Marktformen herausgestellt. Nimmt man mit Vorsicht einige andere Eigenschaften hinzu, die den Kunstmarkt und den Aktienmarkt vergleichbar machen, dann zeigt der Kunstmarkt gegenüber dem Aktienmarkt eine dramatisch schlechtere Transparenz und eine ebensolche Liquidität. Hinzu kommt noch, dass auf dem Kunstmarkt die Transaktionskosten enorm hoch sind und teilweise bis zu 25 Prozent des Objektwerts betragen können, was sicherlich auch daran liegt, dass hier nur zwei Auktionshäuser das Gros der Transaktionen durchführen. Preisindikationen gibt es nur auf Anfrage. Käufe und Verkäufe finden im Vergleich höchst selten statt. Daneben ist die Gefahr von Fälschungen eher so groß wie auf dem sog. „Grauen Aktienmarkt“ und deutet also auch mehr auf die strukturelle Verwandtschaft zwischen grauem Aktien- und zwielichtigen Kunstmarkt.

Beide, durch staatliche Duldung diskret akzeptiert, haben die Aufgabe, Risikogelder – so nennt man auch jene Gelder, deren Herkunft unklar ist wie deren Eigentümer diskret sind – einem Markt und somit dem Zugriff einer öffentlicher Instanzen wieder zuzuführen; so vornehmlich das finanzpolitische Kalkül. Aber während die Investoren auf den Grauen Finanzmärkten eher kurzfristig denken, müssen Investoren bei Sammelobjekten in der Mehrzahl der Fälle langfristig investieren. Dabei aber stellt sich leider nicht der in der öffentlichen Diskussion entstandene Eindruck eines kurzfristig sagenhaft lukrativen Investments auch tatsächlich ein; im Gegenteil.
Gegenüber Aktienmärkten schneidet der Kunstmarkt, langfristig betrachtet, katastrophal negativ ab. Im Vergleich mit Aktien um etwa das Vierzigfache, sogar Briefmarken waren im gleichen Zeitraum um etwa das doppelte lukrativer.




Bleibt die Frage, warum das Wirtschaftssubjekt, der homo oeconomicus auf dem Kunstmarkt gegen jede Vernunft investiert? Denn den deutlich besseren Nutzen verspricht ja schon seit langem ein Investment in Aktien wie auch andere Allokationen. Sogar gegenüber US-Anleihen, die bekanntlich wegen der anhaltenden Niedrigzinsphase durch die Geldpolitik der Fed als völlig unattraktiv galten und lediglich durch die Verpflichtungen der institutionellen Anleger überhaupt noch gekauft wurden, liegt der Kunstmarkt zurück.

Der Kunstmarkt ist also im Vergleich zum Aktienmarkt das bei weitem schlechtere Investment und keiner sollte kommen und sagen, hier herrsche eben die Liebe zur Kunst. Das wird dem Sammler unterstellt und mag auch in einigen Fällen zurecht so sein, die ganze Geschichte aber erzählt sie nicht. Wenn denn diese romantische Remanenz einen Sinn ergibt, dann in der diskursiven Bestreitung und Homogenisierung all‘ der unschönen Dinge, die der Kunstmarkt beherbergt und austrägt.

Die ontologische Komplexität des Kunstmarktes aufzuzeigen und auszuhalten wäre eine Minimalanforderung an den Diskurs über Kunst, die aber ist in der Kunstgeschichte, im Feuilleton und im allgemeinen Bildungsdiskurs mit ihren opaken Begrifflichkeiten und dem romantischen Kitt an Schönheit gebildeter Syntax zugeschmiert.

Unterhalb des diskursiven Firnis, gerade noch durchscheinend zur Oberfläche, erkennt man eine Art „Refeudalisierung“5 der Kultur, an deren Spitze der Kunstmarkt agiert. Und an dessen Spitze wiederum agieren die beiden Auktionshäuser Christie’s und Sotheby’s. Refeudalisierung bezeichnet einen Prozess, in dem remanent scheinbar überwundene Strukturen in unserer aktuellen Gesellschaft und Geschichte wieder auftauchen:„(es)droht mit dieser Entwicklung das, was man eine Refeudalisierung der Gesellschaft nennen könnte: eine Gesellschaft, in der Reichtum ebenso wie Armut innerhalb abgegrenzter sozialer Gruppen ‚vererbt‘ werden, und zwar nicht nur durch die Weitergabe bzw. das Fehlen von materiellen Gütern, sondern – sozialisatorisch weit früher und tiefgreifender – insbesondere durch die soziale Determination von Bildungs- und Aufstiegschancen.“6

Man kann diese Entwicklung auch als eine fraktale Struktur abbilden, in der Tradition, die wir als einen ‚Grundstock an Übereinkunft‘ bestimmen, um so der historischen Unbestimmtheit von Tradition zu entgehen, gleichsam wie eine Art Einschlüsse im geschichtlichen Veränderungsprozess sichtbar werden. Grundstock deshalb, weil per definitionen sich der gebräuchliche Begriff der Tradition auf keinen genauen historischen Moment bezieht oder sich chronologisch genau eingrenzen lässt. Ein Grundstock oder eine Versammlung von Übereinkünften ist im operativen Sinne besser zu handhaben, da aus dieser Sicht die Bedingungen für eine Übereinkunft in das Blickfeld geraten und so wiederum operativ von Nicht-Übereinkünften sich besser unterscheiden lassen. Konsens und Dissens lassen nicht nur die jeweiligen Bedingungen klarer werden, sondern eignen sich auch besser für eine Neubestimmung oder Neubearbeitung und Erweiterung. Weil der Begriff Tradition aus seiner Gebrauchstradition mittlerweile seinem Wesen nach als reaktionär (um-)bestimmt wurde, insofern er stets nur rekursiv und restriktiv gebraucht wird und also Erweiterungen, Neuerungen, Umwertungen negativ bestimmt, ist er für uns also wenig geeignet.

Der Ausdruck ‚Grundstock an Übereinkunft‘ ist gegenüber dem Begriff der Tradition weder rekursiv, also unabgeschlossen, noch restriktiv, verneinend und ablehnend. In seiner fraktalen Struktur überwindet er auch die ontologische Reduktion der Wirklichkeit zwischen Immanenz und Transzendenz, erweitert das Gesichtsfeld auf eine Immanenz, in der Transzendenz wie heute fast aggressiv bis mitleidig arrogant üblich überhastet und ohne jede Form von Nachdenklichkeit aus dem Immanenzfeld verbannt wird.
Jene Löchrigkeit der Immanenz, von der wir sprachen gleichsam als einen Index transzendenter Einschlüsse, stellt also beide Begriffe nicht als Gegenbegriffe vor, sondern bezieht die Dynamik der Veränderbarkeit jeder individuellen, kollektiven wie objektiven Existenzweise mit ein; natürlich gilt dies auch für jede andere Art von Interaktionstheorie, auch die naturwissenschaftlichen. So betrachtet bewahrt die Transzendenz die Immanenz vor jeder Form von Totalisierung.

Refeudalisierung oder feudale Remanenz im Kunstmarkt adressiert nicht nur die Zementierung von materieller Ungleichheit und kultureller Segregation. Die Spreizung von kultureller Zugehörigkeit und kulturellem Ausschluss geschieht vielfältig, etwa durch materielle Bedingungen im Verein mit sozialer Herkunft, durch die diskursive Verschleierung partikularer Interessen der Kunstmarkt-Protagonisten in scheinbar gesellschaftlichen und kulturell wertvollen Allgemeininteressen, durch die damit entsprechenden, undemokratischen Entscheidungsprozesse, die bis auf die lokale Ebene öffentliche Entscheidungen bzw. die öffentlichen Interessen an der kulturellen Gestaltung ungehört, unberücksichtigt lassend dispensieren und schlussendlich auch durch eine inszenierte Öffentlichkeit, die der Kunstmarkt als reine Selbstinszenierung gleichsam noch als kulturell bzw. künstlerisch wertvoll ‚verkauft‘.

Die materielle Ungleichheit wird noch gestützt durch steuerliche Sonderbehandlungen auf den Ebenen der Erbschafts-, Kapital- und Gewinnsteuern, von denen besonders Erben und Eigentümer von großen Kunstsammlungen profitieren. Kunstsammlungen werden so zu Remanenzen vormoderner, feudaler Eigentumsstrukturen, die darin Bestand haben, dass Reichtum einen speziell begünstigten Erbcharakter hat. Nach vormodernen feudalen Mustern verteilt sich also Reichtum in bestimmten, staatlich begünstigten Erbkreisen, die sich fast als eine ständisch organisierte Klasse des Kunstmarktes, sowohl die Auktionshäuser wie auch Museen zum Erhalt ihres Reichtums als quasi Transaktionssytem von Erbmassen bedient, die dem Erhalt und der Wertsteigerung dienen. Und innerhalb dieses Transaktionssystem wirkt eine hierarchisch strukturierte ‚Klassengesellschaft‘ mit klaren Zuständigkeiten und Privilegien; die Kunstmarkt-Akteure.



Remanenz feudaler Klassengesellschaften


Dieser Topos von einer feudalen Klassengesellschaft dient der Vorbereitung für einen Zusammenhang, den wir später ausführlich unter der Überschrift: Globalisierung behandeln werden. Wenn wir im Zusammenhang mit dem Kunstmark von feudalen Strukturen sprechen, meinen wir das nicht in einem politischen Sinn. Anstelle von Machtoptionen stehen dann Beeinflussungs- und Entscheidungsoptionen im Vordergrund.

Der Kunstmarkt wird hauptsächlich von einigen wenigen Protagonisten oder Institutionen bestimmt, die in einem strukturellen Geflecht zueinander in Beziehung stehen und welches zugleich hierarchisch gegliedert ist, wobei Entscheidungsebene und Beeinflussungsebene wieder unterschieden sind.
Die Künstler bilden gewissermaßen die Basis dieser Marktpyramide. Am Anfang ihrer ‚Karriere‘ sind sie zunächst freischaffend, ohne reale Verkaufsaussicht. Kommen sie in Kontakt mit Galeristen oder Sammlern, sind diese Kontakte überwiegend zufällig oder durch Veranstaltungen von Kunstakademien und deren Lehrkörper vermittelt. Einen Zugang zu Auktionen haben sie (fast) nie.

In ihrer monetären Entwicklung und materiellen Subsistenzsicherung sind Künstler auch heute noch weitgehend persönlich abhängig von Protagonisten höherer Ebenen der Kunstmarktpyramide und ihr Arbeitsleben ist strukturell nicht vergleichbar mit Erwerbsarbeit.
Trotzt Künstlersozialversicherung, die ja erst später bei vorhandenen Einnahmen durch Werkverkäufe greift, haben Künstler weder Formen der Sicherung bei Krankheit und im Alter, noch ein rechtlich reziprokes Arbeitsverhältnis mit einem Vertragspartner auf dem Arbeitsmarkt. Zudem haben sie auch keine Alternativen, in bestimmte Arbeitsmarktsegmenten zu wechseln oder ihre Situation durch Qualifizierung auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern; weder gibt es diese Segmente – dazu zählen auch nicht die sog. Sommerakademien und andere, meist selbstorganisierte Events.
Freischaffend meint so nicht einmal ein ähnliches Arbeitsverhältnis wie Freiberufler, ist eher an den Status einer Ich-AG oder eines Einzelunternehmers angelehnt.
Erst im Erfolgsfall sind Künstler Unternehmer mit ‚Angestellten‘ und ganzen Betriebsabteilungen für unterschiedlichste Marktfelder bzw. Aufgabenfelder im Zusammenhang mit dem Kunstmarkt.

Ihr Status auf dem ‚Arbeitsmarkt‘ ist also strukturell der eines Unfreien. Unfrei insofern, als der Künstler weder die freie Wahl auf dem Kunstmarkt für seine künstlerische Arbeit hat, noch eine rechtliche Absicherung seiner existenziellen Bedürfnisse im Notfall. Dies manifestiert sich in der Beziehung zwischen Künstler und Galerist. Galeristen halten eine exklusive Beziehung zum Markt. Als Primärmarkt-Galerie betreut sie meist neue, junge Künstler und verkauft hauptsächlich sog. „atelierfrische“ Arbeiten an interessierte Sammler oder Spontankäufer. Daraus, also aus diesem „freien“ Verhältnis zueinander lässt sich für den Künstler keinerlei Reziprozität ableiten.
Als sog. Sekundärmarkt-Galerie lebt sie im Gegensatz dazu ausschließlich vom Wiederverkauf bereits marktgängiger Kunstwerke, die sowohl an Sammler wie auch an andere Galerien oder über Messen an Endkunden gehen. Häufig übernehmen Primärmarkt-Galerien selbst den Rück- und Wiederverkauf von Arbeiten der von ihnen vertretenen Künstler, manchmal werden solche Werke bei Auktionshäusern eingereicht. Die direkten Kontakte zwischen Künstlern und Galerie-Kunden sind beschränkt auf verkaufsexterne Gelegenheiten. Künstlern wird also ein Marktzugang extrem erschwert, mitunter sogar auf bilateraler Ebene zwischen Künstler und betreuender Galerie vertraglich untersagt.

Junge Künstler, die versuchen, die ersten Schritte auf das Parkett des Kunstmarktes selbst zu gehen, werden meist schnell feststellen, dass dieser Weg schwer, wenn nicht unmöglich ist. Beide Wege zusammen zu gehen, also frei und über Galerien, manchmal sogar in Personalunion mit sich als Kunstkurator, wird ungern gesehen, allein schon wegen der möglichen, konkurrierenden Preisstellungen. Wettbewerb zwischen zwei oder mehreren Marktzugängen ist also eher schädlich, wenn überhaupt möglich.

Galerien, die junge Künstler in ihren Portfolios halten, haben bereits eine Vorentscheidung getroffen, welchen „Stil“, welche Kunst sie für marktfähig halten. Also nicht der Künstler, sondern der Galerist trägt entscheidend bei der Marktpositionierung der Künstler bzw. deren Werke bei. Er beeinflusst damit direkt sowohl die Werkproduktion wie den Markt. Historisch gesehen standen Künstler oft im Dissens mit den Formen der Beeinflussung durch ihre Auftraggeber.
Die Formen der Beeinflussung sind in den letzten Jahrzehnten überaus komplex geworden, so dass sich zwei weitere Ebenen des Kunstmarktes ausgebildet haben: der Kunstkurator und der Kunstagent.
Der Kunstkurator geriert sich als vermeintlich neutraler Mittler zwischen Sammler und Galerie oder Sammlern untereinander. Da er selbst nicht unbedingt galeriegebunden ist, verschafft er gerade dem ‚jungen‘ Sammler beim Einstieg einen Überblick über den Markt, berät ihn vor und bei Kaufentscheidungsprozessen sowie bei der Zusammenstellung seiner Sammlung; so jedenfalls sein Selbstbild.

In der Regel aber sind solcherart Kuratoren eine eher aussterbende Spezies oder dann doch schnell unterwegs, zum Kunstagenten aufzusteigen, der sich in den 1960er-Jahren entwickelte hat. Seinem Selbstverständnis nach vermittelt der Beruf des professionellen Kunstagenten für die Künstler zwischen Galerien, Sammlern, Museen und Messen. Aber wie der Fall ‚Achenbach‘7 offenbarte, ist der Kunstagent eher ein Hoheitsberater für die Sammelleidenschaften reichster Familien, reicher Einzelpersonen und Wirtschaftssyndikate.

Für eine handvoll der etablierten Künstler erledigen die Kunstagenten auch die Öffentlichkeitsarbeit bis hin zum Event- und Forderungsmanagement. Sie sind in aller Regel am Umsatz des Künstlers beteiligt oder arbeiten auf einem Etat für Sammler. Diese Ebene der Kunstmarktpyramide, die dem Unternehmensberater in der Wirtschaft ähnlich ist, unterscheidet sich aber von den Beratungstätigkeiten, dass sie keinerlei Interaktion mit anderen Bereichen der Ökonomie, wo es darum geht, solche Bereiche zu integrieren oder zu entwickeln, hat.
Was den Kunstmarkt insgesamt kennzeichnet, es findet keine Marktausweitung statt wie das Marktgeschehen auf dem Kunstmarkt grundsätzlich allein auf Wertsteigerungseffekte beschränkt ist; ein wirtschaftliches Wohlfahrtsmoment ist im Kunstmarkt daher nicht auffindbar.

Betrachtet man die Wandlung im Bereich der Kunstkritik in der Zeitspanne der letzten hundert Jahre, dann darf man feststellen, dass die Kunstkritik ihren Einfluss zugunsten einiger großer, vernetzter Galerien und Kunstberater resp. Kunstagenten fast vollständig verloren hat. Bis in die 1960er-Jahre konnte in öffentlichen Medien geäußerte Kritik zu Werken oder Ausstellungen eines Künstlers diesen fast im Alleingang auf dem Markt durchsetzen oder aus dem Markt werfen; Ende des 20. Jahrhunderts und Anfang des 21. Jahrhunderts ist die Marktbeeinflussung des Kunstkritikers gegen Null geschwunden. Selbst Echtheitsdiskussionen finden heute außerhalb der Kunstkritik in Fachreisen der Restauratoren statt und was marktgängige Trends sind und was nicht, gehört ebenso nicht mehr zum Repertoir des kritischen Kunstdiskurses, sondern wird in weltweit vernetzten Galerien bestimmt.

Der Experte im Auktionshaus beobachtet intensiv den Markt, taxiert die ihm von Sammlern oder – in seltenen Fällen – von Museen angebotenen Kunstwerke und stellt sie zu den wenigen im Jahr stattfindenden Auktionen (2. Markt) seines Hauses zusammen. Er betreibt also die entscheidende Auswahl über den Auktionskatalog, stellt die Rangordnung der Lose fest und senkt den Daumen über Werke, indem er sie in den Sekundärkatalog aufnimmt, aus dem heraus meistens nicht einmal zehn Prozent der Werke zu deutlich geringeren als den Erstpreisen ihren Weg in den Markt finden.

Junge, zeitgenössische Kunst findet, wenn überhaupt, dann nur über enge Beziehungen zwischen Kurator etwa und Auktionsexperten Aufnahme in den Sekundärkatalog. Aufgabe und Selbstverständnis der Auktionshäuser sind allein kommerzielle und, gleichsam als Form der Selbstvermarktung und Öffentlichkeitsarbeit die Kommunikation von Preis- bzw. Wertsteigerungsrekorden.
Auktionshäuser bedienen also nicht wie man fälschlicherweise vermuten könnte den Kunstmarkt, sie sind der Kunstmarkt, stehen an der Spitze der Kunstmarktpyramide. Sie sind die Torwächter zu den Königsgräbern der Kunstgeschichte und die Königsmacher auf dem aktuellen Kunstmarkt, entscheiden über den Erfolg auf allen Ebenen des Kunstmarktes und deren Akteure; die Galerien, die Museen, die Agenten, die Sammler und die Künstler. Wer oder welche Werke auf dem Auktionsmarkt nicht reussieren, laufen fortan auf dem Kunstmarkt wie ein Platz 27 in einem olympischen Marathon.

Waren früher vor den Galeristen noch die Museumsdirektoren und die Kuratoren von Museen, Stiftungen, institutionellen Sammlungen oder Ausstellungen maßgeblich für die Aufmerksamkeit und Werthaftigkeit von Werken und Sammlungen, so entscheiden diese Museumsfachleute heute mehr über Schwerpunkte einer (öffentlichen) Sammlung, über Ausstellungskonzepte, Ankäufe von Kunstwerken und ihre Eingliederung in Museums- und Werkbestände. Ausgestellte Kunstwerke erhalten durch ihre Wertschätzung als Museumsbestandteile öffentliche Akzeptanz und vielfach steigen die Arbeiten der museal beachteten Künstler dadurch im Wert, was besonders Sammlungen, die in Form von Stiftungen organisiert und legitimiert sind, hilft.

Speziell im Bereich der privaten Kunstsammler kann man eine Form der Refeudalisierung des Kunstmarktes erkennen. Zunehmend tauchen dort neue Käuferschichten aus Russland, China und Indien, neuerdings auch aus den erdölproduzierenden Ländern auf. Bei diesen Käuferschichten werden keine großen Sammlungen sukzessive und langfristig orientiert aufgebaut, sondern extrem schnell zusammengekauft. Diese neuen Käuferschichten haben nicht nur das Potenzial, den Kunstmarkt zu beeinflussen und nach ihren Bedürfnissen bzw. finanziellen Absichten zu verändern, sondern neben den Wertspekulationen auch eine weitere Abschottung der Marktzugänge für traditionelle Sammlungen sowie Museen und Stiftungen zu erzwingen.



Kunstmarkt: Erneuerung ausgeschlossen


Dass heute auch auf dem Kunstmarkt die Digitalisierung Einzug gehalten hat, ist kein Zeichen für eine Erneuerung des Kunstmarktes. Dass sich durch die Digitalisierung auch keine Skaleneffekte, mithin Preiseffekte ergeben haben, bestätigt dessen Stabilität, deren geschlossene, Einflüsse von außen abwehrende, restriktive Struktur feudale Züge zeitigt.

Wenn heute der Kunstmarkt mit einer Versammlung großen Reichtums assoziiert wird, dann ist die gedankliche Verbindung weder zufällig noch in der Sache unrichtig. Historisch betrachtet gehörten die Auftraggeber, die ausschließlich direkt mit den Künstlern Auftrag, Ausführung und Bezahlung verhandelten, zu einer feudalen Klasse der Gesellschaft, die ganz überwiegend durch Aristrokatie und Kirche gestellt wurde. Entscheidungs- und Beeinflussungsebenen waren wenigen vorbehalten und die distributive Gerechtigkeit8 auf wenige Ebenen der Kunstmarktpyramide vertikal verteilt.

Distributive Gerechtigkeit, nach Aristoteles, ist eine Art der Beteiligung, die proportional zur „Leistung und Würde“ der Person als maßgebliche Regel definiert ist. Als diese sog. Regelgerechtigkeit, auf deren Grundlage alle Beteiligten nach Leistung und Würde am Ergebnis, hier des Kunstmarktes, beteiligt sind, impliziert sie eine formale Form des Gemeinwohls, die aber bereits von Thomas von Aquin der „Gesetzesgerechtigkeit“9 untergeordnet ist.

Wir haben diese Form der Gesetzesgerechtigkeit auf dem Kunstmarkt als vormodern beschrieben, deren feudale Strukturiertheit keine allgemeine Gerechtigkeit, mithin kein Gemeinwohl adressiert, sondern als eine rekursive Form der „Selbstgerechtigkeit“ bzw. als eine Art freiwilliger Selbstkontrolle bezeichnet werden kann. Insofern also benutzen wir den aristotelischen Ausdruck: distributive Gerechtigkeit zur Abgrenzung einer, über die feudalen Strukturen hinausgehenden Verteilungsorientierung wie dies etwa die Allmende ist.

In gewissem Sinne könnte man den Kunstmarkt als ein modernes, staatliches Lehen betrachten, das einer Privatisierung der Kulturarbeit, ehemals Allmende, gleich kommt und worin einige wenige privatwirtschaftliche Institutionen – und Privatpersonen – über alle Marktbereiche bestimmen, auch über die Verteilungsmechanismen und Wertrelationen von Kunst.
Was der Staat davon hat? Er lagert wie im historischen Feudalismus bestimmte Bereiche, vor allem kostenintensive und Wahl-unrelevante an untergeordnete Ebenen aus – eine Art Outsourcing; hier die Kosten für die Aufbewahrung, Pflege und Restaurierung von Kunstwerken sowie die Gesamtreproduktion des Kunstmarktes, der nun in der Folge aber lediglich einen geringen, doch viel beachteten Teil gesellschaftlicher Kulturarbeit darstellt.

Die Erneuerung des Kunstmarktes geschieht also nach einem Kunstmarkt-eigenem Kalkül, nicht aus einem kulturellen Prozess einer Gesellschaft. Das Kalkül, oder das feodum beneficium ist monetär- und gewinnorientiert, also eine staatliche Wohltat zum Eigennutz auf beiden Seiten, des Staates wie der Kunstmarktprotagonisten. Das kennzeichnet auch schon feudale Strukturen seit dem europäischen Mittelalter. Die Reziprozität zwischen Staat und Kunstmarkt ähnelt der zwischen Kaiser und Lehnsmacht.

Mit den heutigen Formen der Selbstvermarktung, die zunehmend aber noch nicht umfangreich genug überall auftauchen, ist die feudale Struktur des Kunstmarktes bei weitem noch nicht aufgebrochen, gar überwunden. Die bildende Kunst war in ihrer Geschichte stets eine besondere Art von Soziotop, das sich heute in ein sehr kleines, marktaffines und ein großes, noch-nicht marktaffines aufgespalten hat. Jenes kennt, wie bereits gesagt, Strukturen von selbständiger Unternehmertätigkeit, nicht selten verglichen mit den „Schulen“ alter Meister, kulminiert mit dem Namen Lucas Cranach der Ältere. Heute kommen zu den „Malschulen“ mit einer ganzen Reihe von Hilfskräften noch Steuerberater, Finanzanlage-Experten, Anwälte etc. hinzu, die alle ‚lästigen Details‘ des Kunstmarktes und des Alltags vom Künstler-Star fernhalten. Und nicht selten wird diese Abkehr vom beruflichen wie gesellschaftlichen Alltag als Resistenz gegenüber einer Wirklichkeit verklärt, deren Existenz rigoros abgelehnt wird, bis auf die Geldströme, die aus der ‚kapitalistischen‘ Ordnung ins monopolistische privatissimo herüberfließen.

Die romantische Verklärung, allein aus einem Grund auf der Welt zu sein, nämlich um Kunst zu machen, transportiert eine Weltsicht, die Veränderung oder Erneuerung als noli me tangere anstrebt, und so diese in dieser berührungsfreien Kontaktart nicht erwirkt wird, der Welt Ideologie unterstellt und sich selbst die keusche Reinheit, sich nicht instrumentalisieren zu lassen, bewahrt. Eine konkrete Negativität zum Kunstmarkt, Grundlage für dessen Veränderung, findet so nicht statt.

Wenn Formen der Selbstvermarktung außerhalb von Galerien heute zunehmen, dann steht neben dem Habitus von Selbstbestimmtheit, der pars pro toto gleich für das gesamte Leben des Künstlers in Anspruch genommen wird, auch meistens diese Form einer ödipalen Selbstzensur an der Seite, die ein eigenes, auf einige wenige beschränktes, persönliches Soziotop herausbildet und starr reproduziert. Darin ist gewissermaßen der Künstler das aristrokratische Stil-Oberhaupt oder es wird eben angestrebt, ein solches zu werden.
Während die einen, die happy few, darunter kolossal leiden, auf Vernissagen und Finnissagen die Belle Etages des Kapitals aufsuchen zu müssen, hocken die anderen ein Leben lang hinter den Bahnhofsgleisen in schummrigen dark rooms eines selbst erfundenen Widerstandes gegen das Kapital und freuen sich doch verrückt, wenn eine Ausstellung in einem Epizentrum des Kunstmarktes angeboten wird.

Erfolglosigkeit und selbstverschuldete Irrelevanz werden in fadenscheinig stolzer Selbstinszenierung als Unkorrumpierbarkeit der Kunst verklärt. Selbstverschuldet, weil bildende Kunst ihre großen Werke historisch betrachtet nie ohne ein Einverständnis mit Kaiser, Papst und Aristokratie hat verwirklichen können. Das datiert zurück bis in die Anfänge der zivilisierten Kultur.
Sah man einst die Fresken in den Tempeln der Minoer oder in der Sixtinischen Kapelle, so schmücken Richter heute das Kanzleramt und die Living Rooms von Hollywood Stars. Der Skandal heute ist, dass man die Tempel der Minoer und die Sixtinische Kapelle noch besuchen kann, die Livinng Room der US-Film- und Schlagerstars natürlich nicht mehr. Ist die Tragödie der Allmende der Kulturarbeit schon bitter genug in ihrer reduzierten Form musealer Öffentlichkeit, ist sie in den psychotischen Tresoren und ödipalen Schlafzimmern der Reichen, gleich welcher Coloeur, am grauen Ende der Kulturlosigkeit angekommen.

Von da her ist nicht nur die Verweigerung der Instrumentalisierung, sondern auch die Abkehr vom Diskurs zu verstehen, die Kunst heute vehement vorbringt, dass einem größere Sorgen aufkommen. Sprache selbst wird von Seiten der bildenden Kunst und – kaum überraschend – deren berufsmäßig semi-nachdenklichen Protagonisten grundsätzlich und Reflexion über Kunst speziell desavouiert. Sprache verstünde nichts von den Prozessen der bildenden Künste, deren Kreativität und Genialität, und eine kritische Reflexion über Kunst scheint mittlerweile schlimmer als mittelalterliches Teufelszeug. Wir kommen später auf den Zusammenhang von Diskursverweigerung und der Reproduktion vormoderner Strukturen zurück.

Aber hier interessierte uns die Frage nach der Reproduktion von Märkten, speziell des Kunstmarktes, und was die strukturelle Widerstandsfähigkeit sogar feudaler Strukturen im 21. Jahrhundert betreibt. Dazu gehört sicherlich auch immer das Selbstverständnis der Protagonisten, welches aus einem tatsächlichen wie auch eines gewünschten, materiellen wie geistigen Grundstocks an Übereinkünften erwächst, der sich weder mit den wirklichen Bedingungen solcherart Übereinkünfte beschäftigt, noch in Zukunft vorhat, dies zu tun.



Aufstand des Marktes


Es klingt ein wenig seltsam, von einem Aufstand des Marktes sprechen zu wollen, aber es hat darin seine Erklärung, dass die Assoziation zwischen Aufstand und Personen, die den Aufstand wagen, nicht als grundlegend angenommen werden soll. Grundlegend über solchen heroischen Denkmustern setzte sich im europäischen Feudalismus eine zivilisatorische Entwicklung, getragen von den Städten, durch. Im antiken Griechenland erkennt man den Untergang der athenischen Kolonialisierung, die den Attischen Seebund10 tatsächlich trug und in der eine Form von Tyrannis sich mit experimentellen Formen der Volksherrschaft abwechselte, an der Unterbindung der Entwicklung der zum Bund gehörenden, über hundert Städte und Stadtstaaten auf den ägäischen Inseln durch Athen.

Für Marx war der europäische Feudalismus eine Vorform des Kapitalismus‘. Er würde sich ordentlich wundern, wenn er erkennen müsste, welch‘ großen Raum an Remanenz feudale Strukturen mitten in der ‚kapitalistischen‘ Wirtschaftsform sich heute erhalten bzw. weiter entwickelt haben. Allein die sog. sozialen Netzwerke und Plattform-Ökonomien weisen derartige, neofeudale Strukturen auf, dass sie auf alle anderen nationalen wie internationalen Märkte großen Einfluss ausüben.
Parallel zur Entwicklung der Städte verlor die Allmende der bäuerlichen Subsistenzwirtschaft an Bedeutung und wurde feudalisiert. D.h. die bis dato freien Bauerngemeinschaften, die noch große Ähnlichkeit mit dem klassischen Oikos im antiken Griechenland hatten, wurden als Leibeigene unter Grundherrenrecht gezwungen. Der Absolutismus verlor in der bürgerlichen Revolution von 1848 in Deutschland nicht nur seine Machtbasis, sondern auch seine Herrschaftsbasis.
Feudale Herrschaftsstrukturen waren uneinheitlich in Europa. Im Norden von Frankreich existierte ein feingliedriges Netz an Subinfeudationen, in Südfrankreich, Spanien und Italien blieb Land bzw. der Boden nicht lehnsgebundenes Allod11 . In Schweden konnte sich der Feudalismus nicht durchsetzen, in England wiederum verschwand die autonome Volksgerichtsbarkeit nie vollständig, wodurch sich das Common Law besser und am schnellsten in ganz Europa entwickeln konnte.
In Italien und dem Languedoc zeigte sich eine deutliche Remanenz antiker Zivilstrukturen in der fast ununterbrochenen Blüte der Städte und die Geschichte al-Andalus‘ mit der Vorherrschaft des Islam auf europäischen Boden zeitigte eine ganz besondere Staats- und Lebensform, die viel später erst sich in ganz Europa durchsetzte und unter ‚Renaissance‘ bekannt wurde.

Mit allen diesen Wandeln verbunden ist eine Marktausweitung, die sich, getrieben von zunehmenden Formen des Privateigentums, außer in der Landwirtschaft, die noch längere Zeit Remanenzen von Allmende zeigte, in den Städten ausdifferenzierte. Dort in den Städten entstand die neuzeitliche Eigentumsgesellschaft mit dem freien Lohnarbeiter und dem permanenten technischen Fortschritt als deren sichtbare Zeichen. Denn Eigentumsgesellschaften als solche sind ‚unsichtbar‘, da es sich hierbei lediglich um einen Grundstock von Rechtstiteln, genauer gesagt, von Schuldtiteln handelt.

Während der Handel, der schon von Beginn der Neuzeit an globale Ausmaße hatte, sich entwickelte und seine Handelskriege und Kolonialisierung gleich mit ausbreitet, wurde diese Synthese aus Entwicklung und Unterwerfung an Land gewissermaßen kleinteiliger und vor allem immanenter, wenn wir Immanenz zunächst ganz einfach als Beschreibung eines geografisch begrenzten Wirtschaftsraums gegen den globalen Handel unterscheiden. Wenn man also von einer Entwicklung von Märkten spricht kommt man nicht umhin, den Fokus dabei auf den technischen Wandel zu legen, aber dann sollten auf jedenfalls auch die unsichtbaren Bedingungen für den technischen Fortschritt, die Entwicklung des Privateigentums, die wir ausgiebig dargelegt haben, nicht aus den Augen gelassen werden. Allein von einem technischen Fortschritt zu sprechen, wäre zu kurz gedacht. Und gar die Engführung zwischen technischem Fortschritt und Wirtschaftswachstum anzustrengen, machte sich nicht die Mühe daran zu erinnern, dass inmitten des fast infinitesimal kleinen Zwischenraums zwischen Fortschritt und Wachstum stets auch die Krise genug Raum fand, um sich zu entwickeln und auszubrechen.

Heute sprechen wir von Disruption, um den Aufstand der Märkte zu markieren. Disruption, weil gegen eine Entwicklung gedacht wird, weil eine Entwicklung in eine Krise, zu einer Zäsur findet. Weil z. B. disruptive Technologien Innovationen sind, die lediglich als Optimierung bestehender Technologien falsch verstanden wären, weil sie die Erfolgsserie einer bereits bestehenden Technologie, eines bestehenden Produkts oder einer bestehenden Dienstleistung ersetzen oder diese vollständig vom Markt verdrängen. Man braucht wenig Phantasie, um hierin einen Widerspruch zu erkennen, der darin besteht, dass etwas, was eine Entwicklung beendet bzw. stört und unterbricht, zugleich ein Fortschritt sein soll, auf dessen Grundlage Wachstum aufbaut. Bis heute wird diesem Widerspruch in politischen Phrasen von der Sicherung von Arbeitsplätzen viel Raum eingeräumt und disruptive Praxis bekämpft bzw. politisch wie wettbewerbsspezifisch einiges an Hindernissen in den Weg gelegt. Bis nach einer Zäsur Entwicklung wieder stattfinden kann.
Wir sehen, dass Wettbewerb allein nicht unbedingt Motor für Fortschritt, Entwicklung und Wachstum bedeutet. Wettbewerb kann den Aufstand der Märkte auch lange Zeit behindern und auch ganz zum Erliegen bringen; zumindest für eine ganze Zeit.

Es war Schumpeter, der den ernsten Versuch startete, technischen Fortschritt und Wirtschaftswachstum nicht nur zusammenzubringen, sondern auch als eigenen Produktionsfaktor berechenbar zu machen. Und der damit in deutlichen Widerspruch zu Karl Marx trat. Für Marx war die Technik aus ökonomischer Betrachtung lediglich ein Produktionsmittel und somit nur in den Händen der Arbeit, also der Produktivkräfte ein Faktor für Wachstum.
Für Schumpeter ist Technik keineswegs nur ein Produktionsmittel, sondern im Gegenteil, nur durch technischen Fortschritt wird ein langfristiges Wirtschaftswachstum ermöglicht.
In Schumpeters sog. endogener Wachstumstheorie wird der technische Fortschritt auch gleich als Produktivfaktor berechnet. Demnach ist der technische Fortschritt rechnerisch jene unerklärliche Differenz im gesamtwirtschaftlichen Wachstum, die seit Schumpeter als „Residuum“ oder Restgröße bezeichnet wird.

Unerklärlich deshalb, weil auf diese Größe, auf die sog. „Totale Faktorproduktivität“ nur logisch geschlossen werden kann. Sie ist seither als volkswirtschaftliche Kennzahl ein Maß für die Produktivität und gibt an, welcher Teil des Wachstums der Produktion (BIP) nicht auf ein Wachstum des Einsatzes der Produktionsfaktoren – in der Regel Arbeit und Kapital – zurückgeführt werden kann, sondern sozusagen als unerklärter Rest übrig bleibt. Nach Schumpeter bietet es sich an, als Ursache für diesen Teil des Wachstums des Produktionsergebnisses den technischen Fortschritt anzunehmen und, etwa seit dem Jahr 1994 liegen auch Zahlen für das Ausmaß von technischer Entwicklung und Wirtschaftswachstum vor. Demnach wird, je nach Berechnungsart, in empirischen Studien der Beitrag, den die technische Entwicklung zum Wirtschaftswachstum erbringt, zwischen 40% bis 60% festgestellt; wir kommen darauf später zurück.

Wir haben bereits aufgezeigt, dass spätestens seit Schumpeter sich zwei weitere Faktoren für die Berechnung des Wachstums als Gesamtgröße der Produktivitätsentwicklung herangezogen werden müssen: einmal die so schön klingende Humankapitalakkumulation12 und der Lernkurveneffekt13 . Interessant in diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass unter den Annahmen der neoklassischen Wirtschaftstheorie das Wachstum gerade aufgrund eines sinkenden Grenznutzens, verursacht durch Lernen im Umgang mit Maschinen und Prozessen sowie durch Bildung resp. Fortbildung, also dem besseren und schnelleren Erfassen moderner Produktionsweisen stets an seine Grenzen kommt, die es im technischen Fortschritt nicht gibt.

Vergleicht man natürlich den technischen mit dem Fortschritt des Menschen in Bildung und Arbeitsfähigkeiten, sprich beruflichen Kompetenzen, dann hat eine Maschine, die nicht schläft, krank wird und nur geringen Reproduktionsbedarf hat, selbstverständlich rein rechnerisch einen höheren Grenznutzen. Das Dumme an diesem Taylorismus aber ist nicht, dass man hier zwei völlig abstrakte Zeitebenen mit einander vergleicht, Maschinen- und Lebenszeit eines Menschen, was nichts anderes ist, als Äpfel mit Birnen zu vergleichen und sich dann wundern muss, wenn Mus dabei herauskommt; das wäre zu verkraften.
Schwerer, viel schwerer wiegt, dass man einer „fetischistischen Verkehrung“ mit weitreichenden Folgen auf den Leim gegangen ist, einer „Personifizierung der Sache und Versachlichung der Person“, die in der Maschinerie „technisch handgreifliche Wirklichkeit“ gewonnen hat (MEW, Bd. III, S.518 f).
Marx beschreibt mit dem Begriff der Fetischisierung, den er als Fetischisierung der Warenwelt entwickelt hat, einen Vorgang, der nicht nur bedeutend ist im Kontext wirtschaftlicher Praxis, sondern auch durch die heutige Ökonomik nicht mehr erfasst wird, eher einfach vergessen wurde. Das mag auch daran liegen, dass Marx selbst den Begriff außerhalb der Warenwelt weitgehend im Unklaren ließ und er aber denselben häufig in Anspruch genommen, quasi als eine Allzweckwaffe benutzt hat, um etwas zu beschreiben, was sich auch seiner stark eingegrenzten ‚Faktortheorie‘ immer wieder logisch entzog, die ontologische Dimension moderner Technik.



Anmerkungen:

1 Kurt Gödel: Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme I. In: Monatshefte für Mathematik und Physik. 38, 1931, S. 173–198

2 "Deutscher Geist: seit achtzehn Jahren eine contradictio in adjecto.“ (Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert, 1889, Sprüche und Pfeile, Aphorismus 23). Nietzsche bezieht sich hier auf die Gründung des Deutschen Kaiserreiches im Jahre 1871, eine direkte Folge der Niederlage Frankreichs im Deutsch-Französischen Krieg. Das Militär hatte eine nach heutigen Maßstäben extrem große Bedeutung im Kaiserreich.

3 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. In: Gesammelte Schriften. Band V in zwei Teilbänden; herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 1982, ISBN 3-518-28535-1.

4 Vgl: Martin Heidegger: Identität und Differenz. Text der durchges. Einzelausg. mit Randbemerkungen des Autors. Klostermann, Frankfurt am Main 2006, ISBN 3-465-03493-7.

5 Jürgen Habermas (1990), S. 336f.

6 Vgl. Rainer Forst (2005)

7 Helge Achenbach ist ein in Düsseldorf ansässiger deutscher Kunstberater, der wegen Betrugs verurteilt wurde. Mit Urteil vom 20. Januar 2015 hat die 6. Zivilkammer des Landgerichts Düsseldorf Achenbach zur Zahlung von Schadensersatz in Höhe von 19.360.760,70 Euro an die fünf Erben von Berthold Albrecht verurteilt.

8 Siehe Aristoteles (1991). Pol. III 9, 1280a7–22

9 Vgl. insg. Summa theologica, II-II, 57-79; Michael Schramm: Art. Gerechtigkeit, in: LThK 3, Bd. 4, 498-500

10 Der Attische Seebund (auch Delisch-Attischer oder Attisch-Delischer Seebund) war ein Bündnissystem zwischen Athen und zahlreichen Poleis in Kleinasien und auf den vorgelagerten Inseln. Die Athener hatten dabei in militärischer und organisatorischer Hinsicht von vornherein eine gewisse Führungsrolle, die sie im Zuge ihrer innergesellschaftlichen demokratischen Umgestaltung zu einer erdrückenden Vormachtstellung ausbauten. Die dementsprechende Originalbezeichnung des Seebunds lautete: „Die Athener und ihre Alliierten“ (οἈθηναῖοι καὶ οἱ σύμμαχοι) Wikipedia).

11 Das Allod, auch Eigengut oder Erbgut oder freies Eigen, bezeichnete im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Recht ein Eigentum (fast immer Land oder ein städtisches Grundstück respektive ein Anwesen), über das dessen Besitzer (Eigner, auch Erbherr) frei verfügen konnte. Als Familienerbe unterscheidet es sich darin vom Lehen und vom grundherrlichen Land. (Wikipedia).

12 Einfach gesprochen, die Senkung der Stückkosten bei Steigerung der Produktion aufgrund von Erfahrung der Arbeitskräfte.

13 Z. B. Steigerung des Bildungsgrades durch Fortbildung der Mitarbeiter.



Foto: monika m. seibel www.photographie-web.de



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